Frühe Abenteuer
Unser Autor schreibt über eine Reise, die er niemals vergessen wird: „Die Alm“ – Wir waren da
„Die Alm“ der Pro7-Sendung (2004) wird bewacht wie ein Hochsicherheitstrakt.
Wir waren da, vor über 30 Jahren, am Ende der Welt
Von Gerd Kebschull
„Die Alm“ liegt irgendwo in Südtirol jenseits von Lappach, ein kleines Dorf in den Alpen. Wie sind wir dorthin gekommen? Und welches Abenteuer kann man an so einem verschlafenen Ort erleben? Ein Rückblick.
Das Reiseziel wurde bestimmt durch einen Kostümwettbewerb. Alljährlich veranstaltete die Stadt Bochum, damals noch in der Ruhrlandhalle, Jugend-Karneval. Aus einigen Stoffresten schneiderte meine damalige Freundin (und heutige Frau) zwei flotte Kostüme. Das Publikum und die Jury waren begeistert. Die „Zwei Frechdachse“ gewannen tatsächlich den zweiten Preis: „Eine zweiwöchige Skifreizeit in Italien für eine Person“. Wer sollte fahren? Meine Freundin war großzügig. Der Skifahrer, also ich. Dies wollte ich nicht, schließlich hatte sie die Kostüme entworfen und geschneidert. Die Entscheidung des Sponsor war ebenso salomonisch wie großzügig: Beide sollten fahren.
Irgendwann um Ostern ging es dann mit dem Bus und einer Jugendgruppe Richtung Italien. Über Brixen nach Bruneck. Von dort durch das Ahrntal Richtung Sand im Taufers. Dann ging es ins Gebirge. Über Mühlbach mühte sich der Bus steil bergauf auf über 1.400 Meter nach Lapargo oder Lappach. Dort ist die Straße zu ende. Das Ende der Welt ist erreicht. Auf dem Atlas kann man im Umkreis von etwa 40 Kilometern keine Ortschaft finden. Na, Mahlzeit.
Das Jugendheim war ganz nett, die Betreuung hervorragend und das Essen gut. Schnee gibt es in Südtirol immer und in großen Mengen. Nur in diesem Jahr nicht. Also war wandern angesagt. Meine Freundin und ich brachen auf, um eine etwas größere Tour zu unternehmen. Mal etwas weiter weg, als ein zwei Kilometer rund um Lappach. Der Weg ging steil bergan. Nach vielleicht drei Stunden Fußmarsch, erreichten wir eine Alm. Durstig fragten wir die Sennerin, ob wir vielleicht einen Kaffee bekommen könnten. Die Gastfreundschaft, die wird dort erlebten, werden wir nie vergessen. Die alte Sennerin, vom harten Leben auf der Alm gezeichnet, bewirtete uns mit Kaffee, einem hart gekochten Ei, und am Ende mussten wir einen Schnaps trinken. Es war Karfreitag – und da gehört sich so etwas, erzählte uns die Sennerin. Sie berichtete uns von der Zeit, als sie alle Dinge für das tägliche Leben noch von Lappach mit der Kiepe auf die Alm tragen musste. Jetzt wäre es ja schon wesentlich besser, da es seit zwei Jahren eine kleine Straße gebe, und man nur noch die letzten zwei Kilometer zu Fuß gehen müsse.
Man merkte es deutlich. Sie freute sich über den unerwarteten Besuch, denn nur selten verirrten sich Wanderer in diese Gegend. Sie beschrieb uns ihr karges hartes Leben. Aber ohne Groll, denn woanders könnte sie nicht leben. Sie lebte allein dort in der Einöde, nur mit einem freundlichen Schäferhund, einigen Hühnern, Kühen und Schafen. All das ist fast dreißig Jahre her. Die Sennerin hätte nie geduldet, dass ein Fernsehteam ihr Idyll zerstört hätte. Nicht für alles Geld dieser Welt. Jeden Karfreitag denken wir an dieses nette Erlebnis zurück.»weiter
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Der Urlaub bleibt unvergesslich
Das Erlebnis auf der Alm war sehr schön. Unseren mitreisenden Jugendlichen haben wir davon nichts erzählt. Wer interessiert sich schon für so eine alte Almhütte? Nach einigen Tagen schlug das Wetter um. Endlich Schnee. Der Schnee fiel in riesigen Flocken und in solchen Mengen, dass man buchstäblich seine Hand nicht vor den Augen sehen konnte. Nach drei Tagen ununterbrochen Schneefalls endlich Sonne. Strahlendblauer Himmel. Nur lag der Schnee jetzt etwa eineinhalb Meter hoch, so dass es für uns „Flachlandskifahrer“ schwierig wurde, uns durch den Tiefschnee eine Spur zu bahnen.
Am Abend gingen wir wie gewohnt ins Dorf, um dort in einem kleinen Gasthof, ein Glas Rotwein zu trinken. Ganz unerwartet tobte ein Sturm durch den Ort. Die Lampen schaukelten, der Kalk rieselte von der Decke und plötzlich viel das Licht aus. Die Wirtin fiel auf die Knie und betete. Wir schauten uns verdutzt an – konnten die Situation nicht einordnen. Was war passiert? Durch die riesigen Neuschneemassen, hatte sich eine Lawine am Dorfrand in das Tal gewälzt. Die Wirtin bot uns an, im Gasthof zu übernachten, was wir aber ablehnten. Die fünfzehn Minuten Fußmarsch zurück zum Jugendheim würden wir schon schaffen. Zuerst kamen wir auch gut voran. Ist ja gar nicht so schlimm. Aber dann plötzlich war meine Freundin wie vom Erdboden verschwunden. Durch den Sturm, der durch die Lawine verursacht wurde, ist der ganze Pulverschnee von den Bäumen gefallen und hatte den Weg verschüttet. Die Schneehöhe betrug sicherlich mehr als zwei Meter. Da wir etwa die Hälfte des Weges zurückgelegt hatten, wollten wir auch nicht mehr zurückgehen.
Wir krochen auf allen vieren den Weg entlang, wohl wissend, dass wenn wir vom Weg abkommen würden, wir noch weiter in den Tiefschnee fallen würden. Kommt man aus solchen Schneemassen wieder frei? Kann man dort noch atmen? Die Anspannung war riesig. Meine Freundin hatte einen Schock, schrie und weinte. „Lass mich hier, ich will sterben“, jammerte sie verzweifelt. Mir blieb keine andere Wahl. Sie erhielt von mir eine Ohrfeige und die strenge Aufforderung sich „am Riemen zu reißen“. Wir werden und müssen das gemeinsam durchstehen. Nach vielleicht fünfundvierzig Minuten – wir hatten völlig das Zeitgefühl verloren – war das Jugendheim erreicht. Geschafft – überlebt!
Die Abreise von diesem Abenteuerurlaub verzögerte sich um zwei Tage, da immer noch Lawinengefahr bestand. Das Gepäck und die Skiausrüstung mussten über das Schneefeld zum Bus getragen werden. Erst jetzt konnte man das Ausmaß der Verwüstung richtig bewerten. Die Lawine hatte eine etwa zweihundert Meter breite Schneise gerissen und alles was im Weg stand, ins Tal transportiert.
Vor einigen Jahren und auch in diesem Jahr (mit dem Mercedes-Benz Viano »hier ) waren wir wieder in Lappach. Mit meiner damaligen Freundin bin ich seit über 30 Jahren verheiratet. Für sie ist Lappach immer noch mit einem Trauma behaftet. Die Stelle, an der die Lawine abgegangen ist, kann man heute noch gut erkennen, da dort jetzt Tunnel aus Beton steht, über den die Lawinen sicher ins Tal geleitet werden. Das alte Jugendheim ist umgebaut. Daneben ist ein ultramodernes Vier-Sternhotel entstanden. Das Ende der Welt hat sich verändert, ist etwas moderner geworden. Die Sennerin, würde sie noch leben, hätte sich für das alles nicht interessiert.
- Bilder von der Reise♦